MIt der Aussage: „Der Übergang vom Elementar- zum Primarbereich ist stärker in den Blick zu nehmen“ geht die KMK gegenüber zukünftiger sprachdidaktischer Forschung als Konsequenz der aktuellen Resultate eine sperrige Selbstverpflichtung ein. Christa Röber analysiert die Befunde des aktuellen IQB-Bildungstrends und stellt sie den Zielen und Leistungen des PALOPE-Konzeptes gegenüber.
Die Vergrößerung des Dilemmas und die Aufgabe der Ursachenforschung
Die neuesten Ergebnisse der Überprüfung der schriftsprachlichen Leistungen von Grundschülern in deutschen Schulen hat das Ausmaß der Befürchtungen noch überschritten. 2003, dem Zeitpunkt der ersten Grundschüleruntersuchung zu schriftsprachlichen Leistungen, wurde öffentlich bekannt, dass ein Fünftel der Grundschulkinder die Schule verließ, ohne hinreichend Lesen und Schreiben gelernt zu haben. Dieses Ergebnis verbesserte sich bis 2010 geringfügig, nahm dann jedoch wieder ab und erreichte 2017 einen Stand, der unter dem von 2003 lag (vgl. Wösmann, DIE ZEIT 21.10.21). Die neueste Untersuchung des IQBs, die die Pandemiejahre mitberücksichtigen konnte, verstärkte den Abfall der Kurve um ein weiteres. So ist derzeit der Anteil der Kinder, die nicht in der Lage sein werden, dem Unterricht der Sekundarschule zu folgen, auf ein Drittel angewachsen (vgl. IQB-Bildungstrend 2021).
Erneut beginnt die Suche nach den Ursachen, aktuell intensiver – so hat das Bild der Medien in den letzten Tagen gezeigt – als je zuvor. Die Antworten, die jetzt zu lesen und zu hören sind, bewegen sich allerdings vorwiegend auf einer hypothetischen Ebene. Dabei vermehren sich Perspektiven, die nicht mehr primär bis ausschließlich außerunterrichtliche Faktoren in den Blick nehmen, sondern den Unterricht selbst stärker thematisieren. So resümiert der Bericht des IQBs die Untersuchungsergebnisse 2021 mit dem Verweis, dass es erforderlich sei,
„das Augenmerk im Rahmen langfristig angelegter und auf Schüler:innen in besonderen Risikolagen fokussierter Förderstrategien noch systematischer auf die Sicherung von Mindeststandard zu richten, damit alle Kinder und Jugendlichen Kompetenzen entwickeln können, die für ihre weitere Bildungslaufbahn grundlegend sind“
IQB-Bildungstrend 2021, S. 21
Die neu entdeckte Bedeutung des Schriftsprachanfangs für alles weitere sprachliche Lernen
Von besonderer Bedeutung scheint angesichts dieser Resultate zu sein, dass bei aller Vielfalt unterrichtspraktischer Forschungen der vergangenen 15 Jahre ein Bereich vorwiegend auf die methodische Ebene begrenzt blieb: Die Frage nach den Instruktionen des allerersten Schriftsprachanfangs, der das Fundament sowohl für die Chance, alle weiteren schriftsprachlichen Aufgaben bearbeiten zu können, als auch für das Maß der Motivation, mit dem die Kinder ihnen begegnen, bildet:
„Die Förderung muss früh beginnen, weshalb die in den politischen Vorhaben zur Ländervereinbarung der KMK (2020) skizzierte Selbstverpflichtung, auch den Übergang vom Elementar- zum Primarbereich stärker in den Blick zu nehmen und dessen Erfolg wissenschaftlich zu überprüfen, wichtig erscheint“.
IQB-Bildungstrend 2021, S. 21
Die Erfahrungen der letzten Jahre weisen angesichts der großen Anzahl der Kinder, die nicht die Kompetenzstufe 3 erreicht, darauf hin, dass es nicht wie bisher ausnahmslos um die Frage gehen darf, ob die Arbeit mit Anlauttabellen geeigneter sei als die mit Fibeln, sondern um die Frage, wie es Kindern möglich wird, ihr Potential, die Wahrnehmung der kinästhetischen Veränderungen beim Sprechen, die von ihnen wahrgenommen werden können, zu systematisieren, um sie mit den Folgen der Schriftzeichen von Wörtern in Verbindung bringen zu können. Nur so kann der Anfangsunterricht an das Können und Wissen der schriftunkundigen Kinder anschließen (vgl. Kohler 2022, Maas 2022).
Möglichkeiten der Systematisierung des Sprachunterrichts in Grundschulen – und die administrativen Versuche ihrer Verhinderung
Diese Perspektive auf eine zukünftig stärker zu etablierende Forschung des Anfangsunterrichts ist auch aus dem Grunde zu begrüßen, weil sie sichtbar machen wird, dass die Lösung dieser didaktisch elementaren Aufgabe bei vielen Kindern nicht ohne eine intensive Steuerung durch den Unterricht gelingt. So kann sie zu der Verpflichtung der derzeitigen Didaktik beitragen, eine Veränderung der seit Jahrzehnten vorherrschenden Definition von Lernen in der Grundschule als „Eigenleistung“ noch schriftunkundiger Kinder herbeizuführen. Dieser Wechsel wird vielfach als lange überfällig gesehen.
Die letzten zwei Jahre konnten zeigen, dass dann, wenn der Wert vertraute, nie bezweifelte Methoden wie das „Synthetisieren“ für das Lesen und die „Lautanalyse“ für das Schreiben in Frage gestellt werden, mit Widerständen zu rechnen sein wird. Als symptomatisch für die zu erwartende Abwehr können Reaktion der letzten Zeit auf Versuche gesehen werden, die das frühe schriftsprachliche Lernen in für die Anfänger geeignete Formen zu systematisieren bemüht sind. So gibt es seit Mai und Juli 2022 zwei Schreiben der Senatsverwaltung für Bildung aus Berlin, die an die Schulaufsichten gerichtet sind. Die Texte kritisieren die Unterrichtung mit einem Lehrwerk (www.zirkus-palope.de), das den Schulen eine Veränderung des bisher praktizierten, vorwiegend reformpädagogisch ausgerichteten Unterrichts in Richtung einer stärker gelenkten Systematisierung ermöglichen kann. Das Ziel dieses Unterrichts ist eine kontinuierliche Vermittlung von Wissen über Sprache von Anfang an, dessen Erwerb zur Automatisierung der Lernprozesse beitragen kann.
Die Schreiben sind Folge des Beginns einer Veränderung des Sprachunterrichts in Schulen in Berlin-Mitte, die üblicherweise als Brennpunktschulen bezeichnet werden. Einige Lehrende dieser Schulen haben auf Grund ihrer Unzufriedenheit mit den Effekten ihres Unterrichts das Angebot der regionalen Lehrerfortbildung angenommen, sie bei einer stärkeren Systematisierung ihres Unterrichts zu unterstützen. So haben sie vor drei Jahren begonnen, mit dem vom Senat kritisierten Lehrwerk zu arbeiten. Es führt die Kinder kleinschrittig an die einzelnen, sehr eindeutig als notwendig zu definierenden Aufgaben des Schrifterwerbs heran. Den Hintergrund der didaktischen Modellierung ist eine detaillierte schriftorientiete Analyse der deutschen Sprache. Die Orthographie veranschaulicht die Details, für die die Kinder ein Bewusstsein entwickeln müssen, regelhaft. Zugleich basiert die Modellierung auf Resultaten einer jahrzehntelangen Forschung, die nachweist, dass ein großer Teil der Schriftanfänger auf einen stark strukturierenden und anleitenden Unterricht angewiesen ist und sie ihn begrüßen. Die Forschung hat zugleich bestätigt, dass das Lernen vor allem dann gelingt, wenn der Unterricht die sprachlichen Ressourcen der vorschulischen Kinder adäquat berücksichtigt (vgl. Köhler 2022, Maas 2022, Röber 2015, 2022).
So hat eine erste wissenschaftliche Untersuchung in diesen Klassen ergeben, dass die Leistungen der Kinder die Werte, die die bundesweiten Tests (VERA) ergeben, in beachtlichem Maße überschreiten (vgl. Lehmann 2022).
Möglichkeiten der Systematisierung des Sprachunterrichts in Grundschulen – und die grundschuldidaktischen Versuche ihrer Verhinderung
Die Autorin der Schreiben des Senats beruft sich in ihrer Empfehlung an die Schulen, dieses Lehrwerk nicht zu nutzen, auf einen einzigen Aufsatz, der in zwei nicht-wissenschaftlich kontrollierten Publikationsorganen erschien. Die Autorin und der Autor des Textes, Erika Brinkmann und Hans Brügelmann, wenden sich in ihm gegen Unterricht, der die Systematik der Orthographie nutzt, um durch sie den Kindern die Vielfalt sprachlicher Formen zu veranschaulichen und zu vermitteln, insbesondere gegen dieses Lehrwerk. Grundlage ihrer Abwehr ist die Behauptung, die didaktisch anerkannte Systematik der Orthographie des Deutschen sei in Frage zu stellen.
Diese Sichtweise des Unterrichtsgegenstands Sprache ergänzen sie durch das reformpädagogische Kinderbild, das Lernen als individuelle Entwicklung beschreibt, die, wenn sie ungestört verläuft, die Ziele der notwendigen Lernprozesse vorwiegend „eigenständig“ erreicht. Eine Steuerung durch den Unterricht, die im Rahmen einer für Kinder nachvollziehbaren Progression die Strukturen des Gegenstands aufzeigt, wird als Behinderung der Kreativität der Kinder dargestellt, und Motivation verbinden sie ausschließlich mit Kreativität und „freier Entfaltung“. Dieses reformpädagogische Kinderbild bezeichnet Oelkers in seiner Kritik der Reformpädagogik als Mythos (Oelkers 1992).
Dieses Bild prägt auch die Beschreibung der Lehrerrolle. So fordern die Autorinnen eines neuen Lehrwerks (Deutschrad, Westermann-Verlag, 29019), das diesem Konzept folgt, dass
- „die Lehrperson …nicht länger Wissensvermittler, sondern Berater, Beobachter und Lernbegleiter des Kindes“ sei (Lehrerkommentar, S. 6)
- und dass „in einem individualisierten Deutschunterricht … die Lehrperson loslassen können [muss]. Sie muss Vertrauen in die Kinder setzen, dass diese die in den Lehrplänen geforderten Kompetenzen des Deutschunterrichts in ihrem individuellen Tempo und auf ihren eigenen Wegen erreichen.“ (ebd.)
Die Frage nach einem Zusammenhang zwischen dem Unterricht in der Grundschule während der vergangenen vierzig Jahre und ihrer derzeitigen Situation
Die Frage nach einem kausalen Zusammenhang zwischen der (Reform-)Pädagogisierung des Unterrichts in den, verbunden mit dem Verzicht auf systematisiertes Lernen, einerseits und der Abnahme der Leistungen vor allem der Schülergruppen, die auf einen angeleiteten Unterricht angewiesen sind, andererseits scheint eine gewisse Plausibilität zu haben. Sie lässt sich jedoch nur durch Studien beantworten. Diese bedürfen aber eines alternativen empirischen Feldes: Klassen also, die einen strukturierenden Weg einschlagen und Forschung zulassen dürfen.
Die ersten Pilotuntersuchungen, insbesondere Lehrerbefragungen in den alternativ arbeitenden Klassen lassen eine Bestätigung dieser Hypothese vermuten. Sie bilden jedoch bisher nur eine sehr schmale Basis. Weitere Studien werden dann möglich sein, wenn es eine ausreichende Anzahl von Klassen gibt, die schriftsprachstrukturierend unterrichtet werden.
Die Situation in Berlin zeigt, dass so eine Forschung derzeit behindert wird – und nicht nur dort: auch in Hessen sind Lehrerinnen, die wie in Berlin-Mitte ebenfalls in Schulen mit Kindern, die einer intensiven Lenkung bedürfen, unterrichten und sich dem schriftsprachstrukturierten Konzept zugewandt haben, von „oben“ eingeschränkt worden – obwohl auch hier überdurchschnittlich gute Resultate nachweisbar sind.
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Diejenigen, die aktuell nach Gründen für den aktuellen Zustand suchen, bleiben Zusammenhänge wie die hier dargestellten in aller Regel unbekannt. Diese Kontexte gehören daher auch nicht zu den Faktoren, die derzeit angesprochen werden. Sie können erst wahrgenommen werden, wenn entsprechende Studien vorliegen. Daher ist zu wünschen, dass sich bald ein entsprechender Rahmen ergibt.